Hier, wo jüdisches Leben einst Teil des Alltags war, versammeln wir uns heute, um der Opfer der Reichspogromnacht zu gedenken – und um unsere Verantwortung für die Gegenwart zu bekräftigen.
Am 9. November 1938 wurden in ganz Deutschland Synagogen in Brand gesetzt, jüdische Geschäfte zerstört, Menschen gedemütigt, verhaftet und ermordet. Es war kein plötzlicher Ausbruch von Gewalt, sondern der traurige Höhepunkt einer Entwicklung, die Jahre zuvor begonnen hatte: mit Worten, mit Ausgrenzung, mit dem schleichenden Gift der Verachtung.
Die jüdische Bevölkerung wurde systematisch entrechtet – durch Gesetze, durch Propaganda, durch das Schweigen der Mehrheit. Die Reichspogromnacht war der Moment, in dem Hass offen und staatlich organisiert in Gewalt umschlug. Es war der Beginn eines beispiellosen Zivilisationsbruchs.
Dieses Gedenken ist kein Ritual. Es ist eine Verpflichtung. Eine Verpflichtung, wachsam zu bleiben gegenüber jeder Form von Ausgrenzung, Hass und rassistischer Rhetorik – auch heute.
Denn die Geschichte lehrt uns: Der Weg in die Barbarei beginnt nicht mit Gewalt, sondern mit Sprache. Mit dem Glauben, dass es „uns schon nicht treffen wird“. Mit dem Wegsehen, wenn andere angegriffen werden.
Heute, mehr als acht Jahrzehnte später, erleben wir erneut, wie Menschen pauschal diffamiert werden. Wie Religionen gegeneinander ausgespielt, Herkunft zum Makel und Vielfalt zur Bedrohung erklärt wird. Rechtsextreme Einstellungen und Strukturen nehmen zu – auch in Rheinland-Pfalz. Der Verfassungsschutz warnt vor einer wachsenden Zahl gewaltorientierter Extremisten und vor demokratiefeindlichen Netzwerken.
Parteien und Gruppierungen, die sich offen gegen unsere Verfassungswerte stellen, nutzen Sprache gezielt zur Spaltung. Begriffe wie „Remigration“ oder pauschale Abwertungen wie „Belästigung durch Ali und Hassan“ sind keine harmlosen Zuspitzungen – sie sind entmenschlichende Rhetorik, die an die dunkelsten Kapitel unserer Geschichte erinnert.
Als Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der Beiräte in Rheinland-Pfalz weiß ich, wie wichtig es ist, Räume für Begegnung, Dialog und Teilhabe zu schaffen. Unsere Beiräte stehen für Vielfalt, für Respekt und für die Würde jedes Menschen – unabhängig von Herkunft, Religion oder Behinderung.
Gerade heute müssen wir unsere Werte verteidigen. Nicht mit Hass, sondern mit Haltung. Nicht mit Ausgrenzung, sondern mit Zusammenhalt.
Und genau hier möchte ich die Worte einer Frau zitieren, die wie kaum eine andere für Menschlichkeit und Erinnerung steht: Margot Friedländer. Am 27. Januar 2022 sprach sie im Europäischen Parlament – mit 100 Jahren – als Überlebende des Holocausts. Ihre Worte hallen bis heute nach:
„Es gibt kein jüdisches, kein muslimisches, kein christliches Blut. Es gibt nur menschliches Blut.“
Und sie fügte hinzu:
„Seid Menschen.“
Diese Worte sind keine Floskel. Sie sind ein Vermächtnis. Ein Appell an unsere gemeinsame Verantwortung. Denn Menschsein bedeutet, sich nicht wegzuducken. Es bedeutet, Haltung zu zeigen, wenn andere schweigen. Es bedeutet, sich gegen jede Form von Hass zu stellen – nicht nur im Großen, sondern auch im Alltag.
Wenn wir heute Kerzen entzünden, dann nicht nur für die Opfer von damals. Sondern auch als Zeichen dafür, dass wir nie wieder zulassen werden, dass Menschen entrechtet, ausgegrenzt oder entmenschlicht werden.
„Nie wieder“ ist kein Satz der Vergangenheit. Es ist ein Auftrag für die Gegenwart.
Nie wieder ist heute. Nie wieder ist hier. Nie wieder ist unsere gemeinsame Verantwortung.
Und lassen Sie mich diesen Gedanken mit drei Worten der Weisheit aus den großen religiösen Traditionen unserer Welt beschließen – Worte, die über Konfessionen hinaus unsere gemeinsame Menschlichkeit betonen:
„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“
– Levitikus 19,18 (Tora)
„Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch; denn das ist das Gesetz und die Propheten.“
– Matthäus 7,12 (Bibel)
„Wer einen Menschen tötet, der tötet die ganze Menschheit. Und wer einen Menschen rettet, der rettet die ganze Menschheit.“
– Koran, Sure 5:32
Ich danke Ihnen für Ihre Anwesenheit.

